Freitag, 5. Dezember 2014

Bischof, tu was!


Kleine Reformen reichen nicht, schrieb Christiane Florin im Leitartikel der vergangenen Woche. Es braucht eine neue Theologie. Stimmt schon, erwidert der Theologe Magnus Striet aus Freiburg. Nur bedarf es dazu eines Solidarpakts der Amtskirche mit der Wissenschaft
Prof. Magnus Striet
Eines hat die außerordentliche Bischofssynode zu Fragen der Familie und Sexualmoral in Rom bereits jetzt erreicht: Sie hat Unruhe in die römisch-katholische Kirche gebracht. Es wird jetzt selbst in bischöflichen Kreisen nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert, und das ist auch gut so. Nur stellt sich jetzt die Frage, wie es weitergehen kann – wer Vorschläge zu machen hat und wie dann entschieden wird.

Alois Glück, Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat jüngst die Verantwortung adressiert: „In dieser Situation ist vor allem auch die wissenschaftliche Theologie gefragt, an diesen Fragestellungen konzeptionell zu arbeiten. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern möchte ich zurufen: Das ist Ihre Stunde, das ist Ihre Aufgabe, im Geiste der Wissenschaft und der Loyalität zur Kirche, mutig und gründlich! Das gilt ebenso für andere Themen und Aufgabenbereiche. Ich nenne beispielhaft eine Neuordnung der Aufgaben und der Kompetenzen zwischen der Leitung der Weltkirche und den Ortskirchen. Dies kann ein wichtiger Beitrag aus Deutschland zur weiteren Entwicklung sein.“

Nun freut es einen Theologen selbstverständlich, wenn von ihm etwas erwartet wird. Immerhin drückt sich darin eine gewisse Wertschätzung aus. Inwieweit bischöfliche Kreise allerdings eine Theologie wertschätzen, die sich forsch auf Gegenwartsfragen einlässt, veränderte gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen zur Kenntnis nimmt, die vor allem historisch denkt – was heißt: die um die geschichtliche Kontingenz von „Wissen“ und Überzeugungen weiß, ist schwer zu beurteilen. Vernehmen lassen sich derzeit nahezu ausschließlich Stimmen, die keine Notwendigkeit zur Veränderung der Doktrin sehen. Theologischer Neukonzeptionen bedarf es dann nicht. Falls andere Bischöfe anders denken sollten, so schweigen sie. Ein Solidarpakt mit der wissenschaftlichen Theologie von dieser Seite ist jedenfalls nicht zu erkennen.

An theologischen Konzepten fehlt es indes nicht. Seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts füllen sich die Regalmeter der Bibliotheken. Endlose Diskussionen sind darüber geführt worden, wie die Zuordnung von Weltkirche und Ortskirchen zu begreifen ist. Theologisch ist längst aufgearbeitet, dass das Konzept eines rigoristischen Einheitsamtes eine recht junge Erfindung des 19. Jahrhunderts darstellt. Bezogen auf den in der Kirche herrschenden Reformstau besteht das Problem mithin nicht darin, dass nicht geforscht und gedacht würde, sondern dass Ergebnisse lehramtlich nicht rezipiert werden.

Gleichzeitig wird der fatale Eindruck erweckt, die staatlich finanzierte wissenschaftliche Theologie befände sich seit Jahren im Dornröschenschlaf. Es stimmt allerdings, dass es teilweise erfolgreiche Versuche gab und gibt, die Theologie in diesen Schlaf zu versetzen. Wer jetzt die Theologie ermahnt, muss auch sagen, dass Personen kirchlich sanktioniert wurden. Ich erinnere nur an Regina Ammicht Quinn, der man das „Nihil obstat“ verweigerte, eben weil sie sexualethische Fragen bearbeitet hat. Auch wenn Wiedergutmachung nicht zu leisten ist, so wäre zumindest Redlichkeit angezeigt. Erinnert sei auch daran, dass noch im Jahr 2012 eine Tagung zum Thema „Let’s think about sex“ an der katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart abgesagt werden musste.

Und bei dieser Gelegenheit will ich schließlich darauf hinweisen, dass kein anderer als Walter Kardinal Kasper im Jahr 2011 zu den schärfsten Kritikern des Theologenmemorandums gehört hat. Haben wir es etwa einer List der Vernunft zu verdanken, dass einige der damals angemahnten Themen nun doch auf der Agenda der Bischofssynode stehen? Weil sie nicht mehr zu verschweigen sind?

So gesehen ist die Zeit derer gekommen, die nach dem geltenden Recht die primäre Entscheidungsbefugnis in der Kirche haben, man kann auch sagen: die Macht. Es ist die Zeit der Bischöfe! Wenn immer wieder die Selbstakademisierung der eigenen Glaubenstraditionen und die Ausbildung des Kirchenpersonals an staatlichen Universitäten gefordert werden, läuft dies auf ein reines Lippenbekenntnis hinaus, falls nicht auch die Bereitschaft erkennbar wird, offen zu diskutieren und sich auch kontroversen theologischen Debatten zu stellen. Schon aus Gründen der intellektuellen Neugierde würden sich die allermeisten Theologinnen und Theologen diesen Diskussionen kaum entziehen. Vermutlich würden sie sich dann aber auch nicht einfach der Amtsautorität fügen, sondern Argumente einfordern.

In der römisch-katholischen Kirche wird seit einigen Jahrzehnten das Märchen von Hase und Igel gespielt: Wer das Evangelium von dem Gott, der Menschen zu ihrer Freiheit ermutigt, auf konkrete Fragen bezieht, rennt in die stacheligen Arme des Amtsigels, der im geschliffenen Pastoraljargon verkündet: „Gut gerannt, aber das ist Anpassung an den Zeitgeist!“ – „Diktatur des Relativismus“ und „Wider die göttliche Schöpfungsordnung“ sind synonyme Schlagworte, was nur zeigt, dass immer noch nicht erlernt ist, was Freiheit meint: sich selbst ein Gesetz zu sein und nicht auf etwas Vorgeordnetes schielen zu dürfen. Aber auch nicht zu müssen. Das darf gelebt werden, was andere Menschen nicht zum Mittel eigener Bedürfnisse degradiert.

Eine solche Freiheit ist anspruchsvoll, sich selbst und anderen gegenüber. Und sie ist kritisch gegenüber dekretierenden Normvorstellungen, die zudem ihre Herkunft aus patriarchalen Sozialstrukturen, die nicht mehr die einer modernen Gesellschaft sind, kaum übersehen lassen.

Soziologisch betrachtet, hat dieser Wandel von einer akzeptierten dekretierenden Moral hin zu einer Autonomiemoral längst auch innerkirchlich stattgefunden. Selbst in sich selbst als konservativ-katholisch beschreibenden Kreisen dürfte das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung nur eingeschränkt akzeptiert sein. Man gewinnt den Eindruck, dass alle – wo auch immer sie sich kirchlich verorten – in den letzten Jahren Autonomie erlernt haben. Anders ist nicht zu erklären, dass Theologen und kirchliche Würdenträger, die vor Kurzem noch unbedingte Loyalität gegenüber dem kirchlichen Lehramt einforderten, nun hinter vorgehaltener Hand oder gar offen einen neuen Papst fordern, weil ihnen der Kurs des jetzigen nicht passt.

Die Basis allerdings scheinen diese theologischen Auseinandersetzungen immer weniger zu scheren. Auf ewig bleibt niemand vor einer roten Ampel stehen, wenn er auf die andere Seite muss und auch nicht einsieht, was dagegenstehen könnte. Da rennt man respektive frau lieber auf anderen Wegen, ignoriert den Igel – nimmt sich die Freiheit. Bildung hat noch nie geschadet. Und so kann ich mir auch nicht vorstellen, dass die, die keine Anerkennung im Raum der Kirche erfahren, weil sie entgegen der Doktrin leben, sich von einer Barmherzigkeitsrhetorik umgarnen lassen.

Sollte man in Bezug auf Menschen nicht überhaupt besser von Warmherzigkeit sprechen? Wer für sich beansprucht, barmherzig zu sein, denkt immer noch aus einer hierarchisierenden Perspektive und läuft Gefahr, sich zu sicher zu wähnen in der Unterscheidung von Richtig und Falsch. Vielleicht hält der Barmherzigkeitsbegriff davon ab, sich selbst infrage zu stellen und darauf aufzumerken, dass das, was man schmallippig mit Barmherzigkeit, und das heißt: vermeintlich ungeschuldet toleriert, schon lange Anerkennung verdient.

Aus theologisch-konservativen Kreisen ist gegenwärtig etwa immer wieder zu hören, an der Unauflöslichkeit der Ehe dürfe nicht gerüttelt werden. Die Debatte an diesem Punkt anzusetzen ist grundfalsch, weil ihr ein verrechtlichtes und deshalb falsches Verständnis dessen zugrunde liegt, was „sakramental“ meint. Besser müsste man sagen, was „sakramental“ heißen kann, wenn das Wesen einer Partnerschaft darin besteht, dass Menschen sich frei füreinander entscheiden, verantwortungsvoll – liebevoll. Und was Mann und Frau füreinander können, das können auch gleichgeschlechtlich orientierte Menschen. Um dies überhaupt tun zu können, bedarf es im Übrigen auch keines Gottes. Dazu reicht, dass der Mensch Mensch sein will, sich und den anderen Menschen in seinen Sehnsüchten ernst nimmt.

Wenn Menschen so ihre Beziehung leben, sie sie in den Horizont „Gott“ stellen, so geschieht, was der Begriff „sakramental“ zu umschreiben versucht. Sie überantworten in diesem Moment das, was ihnen gelingt – aber auch scheitern kann, dem, das heißt Gott, der alle Möglichkeiten hat zu vollenden, was Menschen begonnen haben. Und das wird sehr viel sein. Denn alles, was Menschen leben und versprechen, bleibt fragmentarisch. Wer dies bestreitet, hat sich noch nie auf einen anderen Menschen eingelassen. Und Menschen verantworten dies auch nur begrenzt; das Leben, eigene Möglichkeiten – Erwartungen sind kompliziert.

Alles ist begrenzt. Vom biologischen Tod ganz zu schweigen. Aber es gibt eben auch den Tod davor, den Tod von Möglichkeit: Niemand liebt, weil er muss oder dies einmal versprochen hat. Die Gefühlswelt ist komplizierter, weniger zu kontrollieren, als dies eine in Rechtskategorien denkende Theologie meint. Eine solche Theologie wird nicht nur der Realität nicht gerecht; sie reicht auch nicht heran an die Praxis Jesu.

Historisch betrachtet hat zumindest eine sehr dominante Theologietradition dem Menschen nie viel Freiheit zugetraut, dafür immer wieder betont, wie stark der Mensch von der Versuchung durch die Sünde bestimmt sei. Nur im Fall von Sexualität und Ehe soll der Mensch dann aber vollkommen frei über sich verfügen können. Unaufgeklärter kann man nicht über Liebe reden. Man scheint sich nur anstrengen zu müssen. Im gesellschaftlichen Fitnesswahn unterliegt der Körper dem freien Willen, man muss eben trainieren, um gesund zu bleiben – im katholischen Eherecht ist es die Liebe, die eine Frage der Anstrengung ist.

Aber man muss das eingeübte Kirchenvokabular nicht verengt lesen. Man kann auch anders. Und zwar aus der Perspektive eines Gottes, der Freiheit will, sich an ihr erfreut, der aber auch um die Grenzen des Menschen weiß. Deshalb heißt es ja auch im Eheversprechen: Bis dass der Tod uns scheidet. Keinem anderen als Gott wird in diesem Augenblick des Glücks das gemeinsame Leben überantwortet, das doch in jedem Fall eine Grenze erfahren wird, die des Todes. Aber es gibt auch den Tod vor dem biologischen Tod. Im Hinblick auf das Scheitern von Beziehungen bedeutet dies: Es wird auf Gott gehofft, dass er das gewollte und dann doch gescheiterte gemeinsame Leben zu einem versöhnlichen Ende führt. Scheitern ist nie schön, und es geht auch nicht darum, nun die fröhliche Wissenschaft einer Theologie zu betreiben, in der die Rede von Schuld nicht mehr vorkommt. Aber einen menschlichen Ort findet diese Rede erst, wenn der Realismus des Lebens anerkannt wird.

Als Jesus sich in die Frage einmischte, wie es mit der Treue stehe, dauerte ein gemeinsames Leben im Normalfall ein bis zwei Jahrzehnte. Von der Alterserwartung her kann eine Beziehung heute leicht 50 Jahre und mehr erreichen. Die Gnade des medizinischen Fortschritts, der Umbau der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Egalisierung der Rechte von Mann und Frau in den Gesellschaften, die auf Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit setzen, kann nicht am Komplex der Beziehungsführung vorübergehen. Das Scheitern einer Beziehung gab es schon immer. Heute allerdings ist es gesellschaftlich akzeptiert, so schmerzlich es auch häufig für alle Betroffenen ist.

Dass Menschen nicht noch einmal Neues riskieren dürfen, stattdessen vereinsamen sollen, um sich unter den Zeichen von Brot und Wein von Gott beschenken lassen zu dürfen, lässt sich wohl kaum mit dem eben skizzierten Verständnis von sakramentaler Ehe – unter den Bedingungen gegenwärtigen Wissens um die Pluralität sexueller Orientierung gesagt: von sakramentaler Partnerschaft – vereinbaren. Damit sei keinem Laisser-faire das Wort geredet. Auch das gibt es. Allerdings wird sich, wer so lebt, von keiner Theologie beeindrucken lassen.

Ein Großteil der wissenschaftlichen Theologie ist ortlos geworden, weil sie innerhalb der Kirche kaum rezipiert wird. Allerdings verantwortet sie dies nicht allein. Wo sie rezipiert wird, schärft sie die Wahrnehmung – und verstärkt bei vielen Menschen das Kopfschütteln über das, was als Lehre gilt. Vorwerfen muss man das nicht der Theologie. Man muss es ändern. Es ist tatsächlich Zeit für Theologie, aber auf allen Ebenen.

Magnus Striet ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg im Breisgau.
Quelle: Christ und Welt 

Keine Kommentare: